Ferruccio Busoni - ein Italiener in Berlin

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Fährt man von Florenz in Richtung Pisa, so erreicht man nach 30 km die Stadt Empoli, schön am Arno gelegen und geschmückt mit der ehrwürdigen Kollegiatskirche Sant’ Andrea aus dem späten 11. Jahrhundert. Hier wurde am 1. April 1866 der Pianist, Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Ferruccio Dante Michelangelo Benvenuto Busoni geboren. Der Vater war Italiener, die Mutter Deutsche. Vater spielte Klarinette, Mutter galt als ausgezeichnete Pianistin. Und so stand wohl zu erwarten, dass der kleine Ferruccio in die musikalischen Fußstapfen seiner Eltern treten würde. Seine eminente pianistische Begabung war schon früh erkennbar: Bereits mit acht Jahren beherrschte er das Klavierspiel so souverän, dass er in Triest sein erstes öffentliches Konzert geben konnte.

Busonis musikalischer Lebensweg führte ihn in zahlreiche europäische Metropolen, so auch mehrmals und über längere Zeiträume nach Berlin. Aber zunächst übersiedelte die Familie von Empoli nach Graz, wo er bei Wilhelm Mayer studierte, der auch Reznicek, Kienzl, Weingartner und Heuberger unterrichtete. Dann wurde er auf Empfehlung von Johannes Brahms Schüler von Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke in Leipzig. Hier machte er die Bekanntschaft von Tschaikowsky, Grieg und Mahler. Im Jahre 1881 nahm die Accademia Filarmonica in Bologna den 15-jährigen als Mitglied auf, was für ihn äußerst ehrenvoll war. Fortan unternahm er Virtuosenreisen durch ganz Europa, erhielt glänzende Kritiken und war zum Markenzeichen für künstlerische Professionalität geworden. Hugo Riemann, bedeutender Musikwissenschaftler und Herausgeber eines noch heute gedruckten Musiklexikons, empfahl ihn 1888 als Lehrer am Konservatorium in Helsinki, wo er die Bekanntschaft des wohl meistgespielten finnischen Komponisten Jean Sibelius machte. Es folgten weitere Lehraufträge: 1890 in Moskau, 1891-93 am New England Conservatory in Boston, in New York und Bologna. In Moskau heiratete er 1890 Gerda Sjöstrand, die Tochter eines schwedischen Bildhauers, mit der er zwei Söhne hatte. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit trat Busoni in ungezählten Konzertsälen Europas und Amerikas auf und festigte seinen Ruf als führender Pianist. Im Jahre 1894 siedelte er nach Berlin über und lebte fortan hauptsächlich in dieser Stadt. Berlin war längst zu einer Art geistig-musikalischer Heimat für ihn geworden, Deutsch war im wörtlichen Sinne seine Muttersprache, hier fühlte er sich geachtet und bestätigt. Unterbrechungen gab es nur 1907/08, wo er eine Meisterklasse für Klavier in Wien leitete, und 1913/19 als Direktor des Liceo musicale in Bologna. Während des 1. Weltkrieges verbrachte er einige Zeit in Zürich, wo er 1919 Dr. h.c. wurde. 1920 übernahm er in Berlin eine Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste, deren Ordentliches Mitglied er 1923 neben Franz Schreker, Alexander Glasunow und Carl August Nielsen wurde. Vor 75 Jahren, am 27. Juli 1924, starb Ferruccio Busoni in Berlin.

Der “Italiener in Berlin”, wie ihn seine Freunde gern nannten, engagierte sich sehr für die zeitgenössische Musik, spielte viele Werke junger Komponisten, dirigierte sie ab 1902 auch in regelmäßigen Konzerten mit den Berliner Philharmonikern und förderte unter anderen Béla Bartók und Arnold Schönberg. In seinen geistvollen theoretischen Schriften, so dem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907; 2. Fassung 1916), suchte er Klarheit über die Entwicklung der zeitgenössischen Musik und setzte sich für die Kompositionstechniken des frühen 20. Jahrhunderts ein. Er erntete dafür großes Lob und scharfen Tadel zugleich. Daneben veröffentlichte er weitere Abhandlungen, die als Sammlung unter dem Titel "Von der Macht der Töne" - Ausgewählte Schriften (1983) erschienen sind.

Zu seiner Zeit galt Busoni auch als viel beachteter Komponist, der Werke für Klavier, aber ebenso für Orchester und die Opernbühne schrieb. Jakob Wassermann, einer der beliebtesten und meistgelesenen Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Redakteur des “Simplizissimus” und gut bekannt mit Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, schrieb einmal über Busoni, dass sein Schaffen “auf dem Kontrast zwischen glühender Gegenwärtigkeit und einer schicksalsvollen Bindung an die Tradition, zwischen lateinischer Helligkeit und deutscher Spekulation beruhte”. Fürwahr zeigt sich bei Busoni ein gewisser Zwiespalt zwischen seiner Verehrung für Bach, Mozart, Mendelssohn Bartholdy und Schumann auf der einen Seite (“neue Klassizität”) und seinem übergroßen Interesse für alles Neue, Avantgardistische (ungewöhnliche harmonische und melodische Techniken, exotisch gefärbte Klanggebung) auf der anderen. Die Bewahrung der Tradition und die Gestaltung der Zukunft sind die beiden Pole, die sein musikalisches Leben bestimmen und Antrieb seines Schaffens sind.

Nicht genug damit. Busoni entwickelte sich neben aller pianistischen, kompositorischen und schriftstellerischen Arbeit sowie umfangreicher Lehrtätigkeit auch zu einem geachteten Herausgeber, so der Werke von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Liszt. Noch heute wird der Begriff “Bach-Busoni” in Musikkreisen respektvoll genannt, verbirgt sich dahinter doch eine hochinteressante, wenn auch eigenwillige Sichtweise des Bearbeiters.

Als Pianist sah Ferruccio Busoni sein Vorbild in Franz Liszt, den er glühend verehrte und für dessen Kompositionen er sich in speziellen Seminaren 1901/02 in Weimar einsetzte. Vom Klavier ging auch jeder seiner kompositorischen Einfälle aus. Es waren die weißen und schwarzen Tasten des Flügels in seinem Elternhaus, die sein späteres künstlerisches Leben prägen sollten. Typisch für seine Klavierkompositionen ist der hohe spieltechnische Schwierigkeitsgrad, ähnlich wie bei Liszt oder Chopin, aber auch die häufige Nutzung kontrapunktischer Elemente, die an Bach erinnern.

Die Liste seiner Kompositionen ist lang. Einige seiner Werke seien genannt, ohne dass sie an dieser Stelle ausführlicher besprochen werden könnten. Da wären zunächst seine Arbeiten für Klavier, u. a. Sonatinen (1910-22), ein Klavierkonzert mit Schlusschor für Männerstimmen op. 39 aus dem Jahre 1906, die Fantasia contrappuntistica für Klavier (1910), gedacht als eine Art “Krönung” von Bachs Kunst der Fuge, vielleicht eine allzu ehrgeizige Zielstellung? 1914 entstand die Indianische Fantasie und 1915 schrieb er Indianisches Tagebuch. Im Verlag Breitkopf & Härtel veröffentlichte Busoni eine Klavierübung in zehn Büchern. Weitere Kompositionen sind ein Violinkonzert op. 35a (1899), Konzertino für Klarinette und Orchester (1909) und eine große Zahl kammermusikalischer Werke. Besondere Erwähnung verdienen seine Opern Turandot (nach Gozzi, 1906), Die Brautwahl (nach E. T. A. Hoffmann, 1912), Arleccino (1917) und vor allem der monumentale nach eigenem Libretto geschriebene und der Welt des alten Puppenspiels verpflichtete Doktor Faust (1916-24), posthum aus dem Nachlass vollendet von seinem Schüler und Freund, dem Komponisten Philipp Jarnach. All seine musikalischen Bühnenwerke atmen den Geist der Buffoopern des 18. Jahrhunderts, natürlich ergänzt und erweitert durch zeitgenössische kompositorische Techniken. Busonis Gesamtwerk ist gekennzeichnet durch stilistisch außerordentlich große Vielfalt. Er selbst lehnte es immer ab, einer bestimmten musikalischen Schule oder Richtung oder gar Mode zugeordnet zu werden.

Abschließend sei zu Busoni gesagt, dass wir es bei ihm mit einer äußerst geistreichen, vielseitigen, anregenden Persönlichkeit zu tun haben, deren gesamtes künstlerisches und musikschriftstellerisches Wirken heute viel zu wenig beachtet wird. Die Gründe dafür, dass er im Konzertsaal relativ selten gespielt wird, liegen wohl weniger in der musikalischen Qualität begründet als vielmehr in der Tatsache, dass man ganz allgemein überall am liebsten “auf Nummer sicher” geht und eben schon deshalb keinerlei Experimente wagt. Und ein Experiment wäre es ja wohl allemal, das Oeuvre eines nicht mehr ganz geläufigen Komponisten zu präsentieren. Seine Ideen und Visionen, die Wirkung der Tonkunst betreffend, haben jedoch in die heutige Musikbetrachtung Einzug gehalten. Auch viele Bachsche Klavierausgaben tragen noch immer den Namen des Herausgebers und Bearbeiters Busoni auf dem Titelblatt. Alles in allem, - Busoni war und ist eine Bereicherung der deutschen und italienischen Musikgeschichte, im besonderen auch der Berlinischen.

Horst Fliegel



Erschienen in “Berlinische Monatsschrift”, Luisenstädtischer Bildungsverein e. V., Juli 1999